KREATIVITÄT.
Wibke Matthes (Dezember 2021)
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Wir leben in einer Zeit des immer schnelleren Wandels. Immer wenn sich die Bedingungen verändern oder wünschenswerterweise verändern sollen, geht es um unser eigenes Mindset, um die Fähigkeit, uns selbst wahrzunehmen, zu reflektieren und in der Lage zu sein, auf Neues zu reagieren und Neues zu erschaffen. Kreativität ist die Suche nach Möglichkeiten, die bei uns selbst beginnt. Sie begrüßt Vielfalt und Komplexität.
Weite Teile der Gesellschaft sind heute vor allem auf stabile und kontrollierte Bedingungen angewiesen, die einen rational maximierenden Denkprozess begünstigen. Diese Kontrolle ist nur dann effektiv, wenn alles ideal und vorhersehbar ist. Kreativität ist demgegenüber das Verlassen des linearen Denkens und der Absolutheit und der Eintritt in die offene Suche nach besseren Lösungen. Kreativität hilft Potenziale zu erkennen. Sie lädt dazu ein, sich mit dynamischen Systemen nicht nur rational sondern auch emotional zu verbinden. Sie ist von Freude und Neugierde gespeist.
Kreativität und Innovationsfähigkeit hängen unmittelbar zusammen. Im Kern geht es darum, einen Möglichkeitsraum des freien, geistigen Entdeckens für wunsch-motivierte Möglichkeiten für die Zukunft zu schaffen. Die „What if“-Haltung der Kreativität sorgt dafür, dass unser Geist sich öffnet, vorgefestigte Denkmuster beweglich werden und Ideen ins Fließen kommen. Wir erkennen neue Potenzialen, neue Zusammenhänge und Unbekanntes. Die Kraft der Kreativität liegt darin, dass sie uns zeigt, dass die Zukunft vorstellbar wird, wenn wir sie für denkbar halten.(i)
Die Untersuchung von Prof. Dr. Ulf-Daniel Ehlers zu Future Skills zeigt jedoch, dass Kreativität und Innovationsfähigkeit für die Gesellschaft zwar als sehr wichtig erachtet, gleichzeitig aber in unserem Bildungssystem am wenigsten gefördert werden.(ii)
Dabei können Kreativität und Innovationsfähigkeit wie alle Future Skills dadurch beschrieben werden, dass sie ein bestimmtes Wissen, bestimmte Skills und eine bestimmte Werthaltung beinhalten. Und damit sind sie erwerbbar.
Auf der Wissensebene gehört die Kenntnis einer Reihe von Kreativitätstechniken dazu. Das Bewusstsein über erfolgreiche und erfolglose Innovationen der Vergangenheit. Ein reflektierter Umgang mit Fehlern, Scheitern und Hindernissen in der Innovationsentwicklung und Implementierung. Schließlich auch die Kenntnis erwünschter und unerwünschter Folgen der Innovation.
Auf der Ebene der Fähigkeiten versetzt Kreativität uns in die Lage, neue Ideen hervorzubringen, diese auszuarbeiten, zu analysieren und zu bewerten, um sie kontinuierlich zu verbessern. Kreativität und Innovationskompetenz sind zugleich soziale Prozesse, denn sie beinhalten die Fähigkeit, konstruktiv mit anderen zusammenzuarbeiten. Dazu zählt auch die Fähigkeit sensibel mit individuellen Vorbehalten umzugehen, auch kulturelle Unterschiede zu erkennen und wertschätzend mit anderen Perspektiven umzugehen.
Auf der Ebene der Werthaltungen brauchen Kreativität und Innovationsfähigkeit eine offene Haltung gegenüber Neuem und den Ideen anderer. Eine Haltung, die Gruppenentscheidungen und Feedback in die Arbeit einbezieht. Das Ausprobieren und Fehler-machen werden in diesem Mindset als Möglichkeit zu lernen wahrgenommen. Kreativität und Innovation erfordern eine positive Einstellung zu langwierigen, zyklischen Prozessen, zu kleinen Erfolgen und häufigen Rückschlägen. Ausdauer und Hartnäckigkeit, Selbstbewusstsein und Mut gehören also dazu.(iii)
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Kreativität setzt unsere Sinne und unsere Fähigkeiten für menschenzentrierte Zukunftsvisionen ein.
Wesentliches Merkmal unserer Realität ist heute die zunehmende Geschwindigkeit der Transformation. Wandel war schon immer, aber der Wandel geht heute viel schneller. Wir reden nicht mehr über Generationen, sondern über Jahre. Schaut man sich die Kondratieff-Zyklen, also die langen Wellen der Konjunktur und ihre jeweiligen Basisinnovationen an, dann sieht man, dass die Wellen immer kürzer werden. Von der ersten zur zweiten Welle mit der Dampfmaschine als Basisinnovation waren es noch 80 Jahre. Das Zeitalter der Elektrotechnik währte noch 50 Jahre und die letzte, die 5. Kondratieff-Welle der Informationstechnologien dauerte nur noch 30 Jahre.
Der Blick in die Geschichte der Forschung/Veröffentlichung zu Schlüsselkompetenzen zeigt: es scheint einen zeitlos wichtigen Kanon an Kompetenzen zu geben, der uns besonders in die Lage versetzt mit Wandel und Komplexität umzugehen.
Das lässt sich gleichzeitig auch mit Hilfe der Zukunftsforschung belegen: Eine Studie des Gottlieb-Duttweiler-Instituts aus der Schweiz hat 2020 anhand von vier Zukunftsszenarien für das Jahr 2050 aggregiert, wie die Gesellschaft in der Zukunft aussehen könnte, um davon abzuleiten, welche Zukunftskompetenzen gefragt sein werden. Die Szenarien zeigen extreme Ausprägungen der Zukunft auf, die in ihren Zwischenräumen eine mögliche Zukunft erkennen lassen.(iv)
Ziel der Studie war es, herauszufinden, welche Kompetenzen es in diesen Zukünften braucht. Das Ergebnis zeigt, es kommt auf Future Skills an: Wissen, Fähigkeiten und Haltungen. Und dabei ist Kreativität eine Kernkompetenz für die Zukunftsgestaltung.
In jeder Zukunft wird Kreativität durch Wissen gespeist: Um die Zukunft zu gestalten, muss man die Gegenwart kennen. Es braucht also Grundlagenwissen und damit auch das Wissen, was man nicht weiß. Da klar ist, dass das Wissen von heute in vielen Fällen morgen schon nicht mehr relevant ist und zudem immer schneller veraltet, ist die Wissenseben der Kreativität daran gebunden laufend neues Wissen zu integrieren. Bei einer sich rasant verändernden Welt sind Werkzeuge wichtig, sich schnell neues Wissen anzueignen.
In jeder der skizzierten Zukünfte werden über das Wissen hinaus Fähigkeiten benötigt. Um die Diskrepanz zwischen der Gegenwart und formulierten Zielen zu verringern, ist konkretes Verhalten gefragt. Dafür ist Selbstwirksamkeit notwendig, der Glaube daran, kraft eigener Kreativität, etwas verändern zu können. Schließlich sind soziale Kompetenzen notwendig, um Entscheidungen in der Gruppe zu fällen und umzusetzen.
Visionen und Ziele sind für die Zukunftsgestaltung unerlässlich. Also brauchen wir die Fähigkeit, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu reflektieren und Ziele zu formulieren. Es braucht Innovationen für das gesellschaftliche Leben in dieser unbekannten Zukunft. Sind diese neuen Ideen von gemeinschaftlichen Werten geprägt, ist das zum Vorteil aller.
An dem Blick in die Zukunft wird deutlich, dass Kreativität die Fähigkeit immer neues Wissen in vorhandene Wissenskategorien einzuordnen ebenso beinhaltet wie über die Grenzen des vorhandenen Wissens hinaus zu denken. Fächergrenzen zu überschreiten und das Wissen neu und anders zusammenzusetzen. Was Kreativität beinhaltet, ist ein growth mindset im Sinne eines Wachstumsdenkens. Dafür brauchen wir Autonomie und Metakognition, Resilienz und Selbstreflexion. Zusätzlich soziale Intelligenz und eine Fehlerkultur.
Wachstumsdenken kann auch schlicht als Lernen verstanden werden.
Lernen oder Lernfähigkeit ist eng mit Kreativität verknüpft, wenn man diese als eine entwicklungsfähige Kompetenz auffasst und nicht als (mehr oder weniger veränderliche) Eigenschaft. Und aus der Perspektive des Future Skills-Ansatzes ist Kreativität eine erwerbbare Fähigkeit, die sich durch lernen entwickelt. Lernen als kreativer Prozess hat in der digitalen Transformation einen besonders hohen Stellenwert und ist für alle wichtig.
Lernen bedeutet, sich auf eine Welt von morgen vorzubereiten, in der alles anders ist.
Das ist typisch für unsere Realität heute. Wir haben es mit einem Wettlauf zwischen Technologie und Bildung zu tun. Technologische Innovationen prägen die Arbeitswelt, altes Wissen wird obsolet. Dann müssen neue Strukturen für den Umgang mit der Digitalisierung gefunden werden. Gesellschaft wird neu gestaltet und dazu ist für alle ein Verlernen und Neu-lernen erforderlich. Die Digitalisierung übt den entscheidenden Druck aus. Zunächst führt der Technologieschub zu „Social Pain“, zu Ängsten und zu Ablehnung. Oder gar zu negativen Szenarien wie das Gig-Economy-Prekariat oder der Kollaps aus der Gottlieb-Duttweiler-Studie. Viele sind schon heute von der Sorge getrieben, abgehängt zu werden. Unternehmen sind bei der Weiterbildung ihrer Mitarbeiter*innen überfordert und weisen daher häufig den offensichtlichen Lernbedarf von sich. Arbeitszeit und Lernzeit werden gegeneinander ausgespielt. Diese Abwehr ist so natürlich wie gefährlich.
Die Arbeitswelt von morgen ist durch Kreativität und Neues lernen geprägt. Und unsere Anpassung an die Zukunft als Lernen passiert nicht nur in formalisierten Settings, sondern auch im Sinne des New Learning. Das Konzept des New Learning basiert auf Frithjof Bergmanns New-Work-Konzept und hat die Selbst- und Potenzialentfaltung des Individuums zum Ziel. New Learning -Prozesse sind geprägt von Selbstbestimmung, Autonomie und dem Streben nach Wirksamkeit. New Learning ist Lernen, das als sinnhaft erlebt wird und die Teilhabe an der Gemeinschaft ermöglicht. Lernen im traditionellen Sinn hat für Viele nicht diesen positiven Geschmack. Für viele sind Schule und Studium in weniger guter Erinnerung. Dabei ist Neugier angeboren. Und Kinder zeigen ihre Lernfreude deutlich, wenn sie z.B. Fragen stellen. Ein vierjähriges Kind stellt durchschnittlich 400 Fragen pro Tag. Und diese Lernfreude ist eine der Future Skills.(v)
New Learning erfordert neue Lernarrangements, neue (digitale) Formen der Zusammenarbeit. Und die Lernangebote dafür sind so niedrigschwellig und so vielfältig wie nie verfügbar. Mit MOOCs, Coursera, Udemy oder Udacity ist z.B. das Wissen sehr leicht zugänglich. Und damit lässt es sich Lernen als Weiterentwicklung in Kreativität auch viel einfacher in den Arbeitsalltag integrieren. Das erfordert allerdings auch ein neues Führungsverständnis. New Leadership, New Work und New Learning gehen Hand in Hand. New Leadership ist dann Führung als Ermöglichung und als Befähigung zur Selbstorganisation gemeint. Das führt zu flachen Hierarchien und hoher Eigenverantwortung und neuen Lernarrangements als integraler Bestandteil der Arbeitsumgebung.
Unternehmen müssen jetzt klären, was die Bedingungen für die zukünftige Handlungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter*innen sind. Und diese wird gewährleistet durch Future Skills und New Learning.
Welche Lernkonzepte, welche Lernbedingungen sind für den Erwerb der Kreativität und Innovationsfähigkeit erforderlich?
Kreativität geht es weniger um konkretes Wissen und Anwendung als eher um den Aufbau von Innovations- und Gestaltungskraft. Die Anwendung zunächst in repetitiven Aufgaben, später auch für komplexere Aufgaben werden zunehmend Maschinen übernehmen. Kreativität gehört wie alle Future Skills zu den Fähigkeiten und Werthaltungen, die zutiefst menschlich sind und nicht durch KI ersetzbar sein werden.
Menschen werden diejenigen sein, die Innovation und Gestaltung übernehmen, das wird weit wichtiger werden als vorgefertigte Lösungen zu nutzen. Und dazu braucht es Kreativität, kritische Reflexion und Analyse. Laufende Adaption ist wichtiger als reine Anwendung.
Das bedeutet: Unternehmen als lernende Organisationen müssen über immer agilere Strukturen verfügen. Das ist nicht neu. Neu ist aber die Alternativlosigkeit. Es ist keine Option mehr, sich nicht mit New Learning und Kreatvität auseinanderzusetzen.
Wie kann das gehen? Nach dem Ansatz von Arndt Pechstein ist unserer Welt durch VUCA geprägt. Das bedeutet, sie wird als volatil, unsicher, komplex und ambigue erfahren. Dieser sollten wir VUCA gegenüberstellen. So wird der Unsicherheit und dem Wandel mit V-Vision, U-Upskilling, C-Cooperation und A-Agility begegnet.(vi) Auch hier steckt wieder das Lernen als wichtiges Vehikel für unseren Weg in die Zukunft.
Am Anfang muss für Unternehmen das Warum stehen: Welche Vision haben wir von der Zukunft der Gesellschaft und unseres Unternehmens darin? Wo wollen wir als Organisation hin? Die nächste Frage ist dann, welche Fähigkeiten wir dazu benötigen. Welche Technologie und Rahmenbedingungen brauchen die Mitarbeiter*innen, um die erwünschte Transformation zu gestalten. Und hier besteht viel Unsicherheit bei Unternehmen in Deutschland. In der „Skill Gap-Studie von Kienbaum/Stepstone aus dem Sommer 2021 wird berechnet, dass nur 20% der befragten Unternehmen angeben, ein klares Konzept, eine klare Definition der erfolgskritischen Zukunftskompetenzen zu haben. Und knapp 60% sehen Kompetenzlücken in den Future Skills bei ihrer Belegschaft und das mit zunehmender Tendenz.(vii)
Für das Upskilling ist sowohl eine Kompetenzdiagnose erforderlich als auch die Identifikation von Entwicklungspotentialen und im New Learning den eigenen Lernpfad anzulegen und zu verfolgen. Dazu ist das C für Cooperation so wichtig. Der weitere Lernpfad liegt vor allem in den Händen der Individuen. Das Lernen und kreative Prozesse sind aber etwas zutiefst Soziales. Future Skills-Lernpfade sind daher dezentral, informell, individuell und kollaborativ. Wichtig ist, dass die Lernaufgabe nicht dem Individuum allein überlassen wird. Ganz wesentlich für das Gelingen eines solchen Shifts from Teaching to Learning sind gute Rahmenbedingungen. Lernen ist Arbeit, keine Freizeit. Das haben auch schon sehr viele Unternehmen erkannt. Lernen ist Purpose und Lernen stärkt die Zugehörigkeit, wenn sie sozial-interaktiv inszeniert wird. Kreativität im Lernen beginnt also beim Einzelnen und entfaltet seine Wirkung im sozialen Bezug.
Wer sich einmal auf diesen Lernpfad begeben hat, wird bleiben. Die Agilität im VUCA zeigt an, dass dies ein Prozess ständiger Anpassung und Fortentwicklung ist. Und so wird Kreativität zu einer lebenslangen bewussten Kompetenz.
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i Huynh, Kassandra, Lebenszentrierte Kreativität, In: Spiegel, P. et. al., Future Skills. 30 zukunftsorientierte Kompetenzen und wie wir sie lernen können, München 2021, S. 180-187
ii Grüneberg, Annekathrin / Spiegel, Peter, Vision und Imagination, In: Spiegel, P. et. al., Future Skills. 30 zukunftsorientierte Kompetenzen und wie wir sie lernen können, München 2021, S. 292-301
iii Ehlers, Ulf-Daniel, Future Skills. Lernen der Zukunft. Hochschule der Zukunft, 2020
https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-658-29297-3
iv Marilyn Binkley et al. Defining Twenty-First Century Skills. In: Griffin P., McGaw B., Care E. (Hrsg.) Assessment and Teaching of 21st Century Skills. Dordrecht, 2012
v Samochowiec, Jakub, Future Skills. Vier Szenarien für morgen und was wir dafür können müssen, 2020
https://www.gdi.ch/de/publikationen/studien-buecher/future-skills
vi Binninger, Christian /Bromma, Simone, Lernfreude, In: Spiegel, P. et. al., Future Skills. 30 zukunftsorientierte Kompetenzen und wie wir sie lernen können, München, 2021, S. 198-207
vii Pechstein, Arndt, Hybrid Thinking, In: Spiegel, P. et. al., Future Skills. 30 zukunftsorientierte Kompetenzen und wie wir sie lernen können, München 2021, S. 20-27
viii Kienbaum/Stepstone, 2021
https://www.kienbaum.com/de/publikationen/future-skills-future-learning/